Heute gibt es eine andere Routine als sonst. Vom Abendessen des Vortags hatte ich noch etwas übrig und so gibt es direkt nach dem Aufstehen Frühstück auf dem Zimmer. So bin ich aber sehr zeiteffektiv, was gut ist, denn heute steht mir erneut ein sehr langer Tag bevor. Ich schiebe mein Rad aus dem vierten Stock herunter zur Straße, fülle meine Wasservorräte auf und fahre los. Den netten Angestellten, mit dem ich mit gestern noch unterhalten hatte, sehe ich nicht mehr.
Der Wind ist nicht ganz so auf meiner Seite wie gestern, aber immerhin sind meine Beine nicht ganz so schwer. Der Hauptteil der Höhenmeter heute kommt von drei langen Anstiegen, vorher gibt es aber auch schon ein paar Hügel. Ich rechne mir alles mit dem entspannteren Tag davor schön und hoffe, heute auch wieder früh anzukommen. Der erste Anstieg läuft gut, die Hoffnung auf ein frühes Ankommen bleibt bestehen. Circa eine Stunde brauche ich für die 12,5 Kilometer und bin von mir selbst überrascht, die geringen Steigungsprozente machen die Auffahrt nicht so anstregend wie gedacht.
Trotzdem bin ich inzwischen ziemlich hungrig und mache mich auf die Suche nach etwas zum Essen. Am ersten Restaurant frage ich nach der üblichen Nudelsuppe ohne Fleisch. Der Koch winkt ab und macht eine Handbewegung, dass ich gehen soll. Das Restaurant scheint eins der Restaurants zu sein, in denen man ein bestimmtes Gericht bestellt und dann mit jenem bedient wird. Ich frage nach einem einfachen Gericht mit Tofu und bekomme dieselbe nicht sonderlich freundliche Antwort. Ein Mann probiert noch zu helfen und liest meine Google-Übersetzer-Nachricht. Aber es hilft nichts. Ich gehe also zurück zu meinem Rad und sehe mich nach einem anderen Restaurant um. Ein Stück weiter habe ich Glück, ein paar Frauen leiten ein kleines Restaurant und es gibt Nudeln. Ich parke mein Rad und werde sehr freudig empfangen. Ich probiere zu bestellen, während von allen Seiten belustigt auf mich eingeredet wird. Eine deutlich schönere Atmosphäre als vorher, und trotz des leichten Chaos nicht unangenehm. Mir werden verschiedene rohe Nudelarten präsentiert und ich kann mir eine aussuchen. Danach wird gewartet. Zwischenzeitlich kommt eine der Frauen mit einem Kind auf dem Arm zu mir. Ich verstehe nicht, ob ich es jetzt nehmen soll. Auf jeden Fall werden eine Menge Fotos gemacht. Der große Pott Suppe kommt. Dazu gibt es noch eine kleine Schüssel mit dem glibbrigen Tofu. Es schmeckt alles sehr gut. Ich fische zwischenzeitlich die letzten Stücke Tofu aus der Schüssel. Direkt kommt eine der Damen und stellt mir eine neue hin. Außerdem gibt es kleine getrocknete Chilis zum Knabbern. Plötzlich kommt eine andere Frau und bietet mir kleine dunkle, undefinierbare Stücke zum Essen an. Ich probiere zu fragen, was es ist, aber es ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Es könnte eine Art dunkler Tofu sein, die ich schon öfter hier gesehen hatte, nach dem Probieren glaube ich eher, dass es Entenleber war. Es wird noch weitere Male probiert, mir mehr zu geben oder in meine Suppe zu packen. Ich winke lächelnd ab, irgendwann kommt die Frau, bei der ich ursprünglich bestellt hatte und sagt etwas. Ich dachte, sie klärt auf, dass ich kein Fleisch esse. Etwas später kommt die Entenleberfrau wieder vorbei. Diesmal sind die Stücke in etwas Sauce eingelegt und mit Frühlingszwiebeln garniert. Auch diesmal muss ich ablehnen. Gut gefüllt fahre ich weiter.
Im dritten Anstieg merke ich langsam meine Beine, aber die Straße ist ruhig und schlussendlich geht es wieder bergab. Ich komme nicht allzu spät in meiner geplanten Stadt an und suche mir ein Hotel. Es sieht alles etwas verlassen bzw. ruhig aus. Aber ein Bett und Dusche sind, egal in welcher Lage, unschlagbar. Ich komme zu einem Hotel, sie kochen gerade in der Küche nebenan. Ich frage, ob ich bleiben kann und bekomme erstmal einen verwirrten Blick. Ich zeige eine chinesische Buchungsapp mit dem Zimmer, in dem ich gerne bleiben würde. Ich sehe die Zweifel im Blick des Mannes. Wir sind weit im chinesischen Nirgendwo, bis auf ein paar Radfahrer sind hier keine Ausländer und ich bin wohl der Erste in seinem Hotel. Ich sage, die Polizei kann mich registrieren. Er ruft erstmal seinen Sohn, der Englisch sprechen kann, an. Eine kleine Konversation später rief er bei der Polizei an. Ich soll warten, die Polizei würde gleich vorbeikommen. Also setze ich mich und warte. Immerhin muss ich diesmal nirgendwo hinfahren, ich bin müde. Die Polizei kommt mit einem Wagen, aber fünf Beamten. Wirklich arbeiten tun nur einer, der übersetzt und eine andere, die die üblichen Fotos von meinem Pass macht. Über der Rezeption prangt groß das „Rauchen verboten“-Schild. Das erste, was der Besitzer macht, ist den Polizisten Zigaretten anzubieten, die dann genüsslich im Raum geraucht werden. Außerdem ruft er seinen Sohn an und alle reden in verschiedenen Sprachen durcheinander. Am Ende klärt sich aber alles und ich darf bleiben. Der Dolmetscher warnt mich noch nicht, nach Vietnam zu gehen. Sie würden dort einen brutalen Bürgerkrieg ausfechten. Eine interessante Aussage und ein Krieg, von dem ich noch nie gehört habe oder der 60 Jahre her ist. Er ist jedoch sehr überzeugt und sehr besorgt um mich. Ob es sich um gezielte Desinformation oder eine persönliche Verwechslung mit Myanmar handelt, kann ich nicht einschätzen. Eine kleine Verhandlung später, ob ich mein Rad mit in das Zimmer nehmen kann, bin ich endlich im Zimmer. Das Rad musste leider unten bleiben. Erst waren die Sorgen des Besitzers zu groß, dass ich das weiße Treppenhaus beschmutze, am Ende war aber einfach das Zimmer viel zu klein dafür. Den happigen Aufpreis für ein größeres Zimmer war ich nicht bereit zu bezahlen. 
Nach etwas Entspannung, will ich Abendessen gehen. Mein Zimmer hat ein Fenster hinein in das Innere des Gebaudes. Ich höre inzwischen schon eine Menge Leute unten und rieche Essen. Als ich am anliegenden Raum vorbeilaufe, werde ich herangerufen und soll mich mit an den Tisch setzen. Es gibt einen Hotpot und Unmengen von Dosen und kleinen Gläsern mit Abreißdeckeln. Ich finde heraus, die Gläser sind Schnaps und lehne ab. Auch beim Bier schüttel ich meinen Kopf. In den knallroten Dosen ist hingegen Kräutertee. Sie sind eiskalt. Der Tee ähnelt von der Konsistenz fast an Hustensaft, ist aber sehr lecker. Ich lehne auch das Fleisch ab, es gibt aber genug Gemüse und mir wird direkt eine Schüssel präpariert. Teile des Gemüses haben noch die Wurzeln, aber es ist alles sehr lecker. Vor allem gefällt mir, dass dieser Hotpot anscheinend nicht so viel Öl hat wie die bisherigen. Das gab am nächsten Tag immer Probleme mit dem Magen. Sorgen, hier nicht satt zu werden, brauche ich nicht zu haben. Immer weiter wird mir Essen zu geschaufelt. Dazu gibt es Google-Übersetzer-Unterhaltungen. Manchmal wird mir auch einfach so etwas erzählt, ich nicke freundlich. Wobei ich nicht nicke, sind die Hitlerlobpreisungen. Anscheinend sind sie auch hier verbreitet und waren kein Einzelfall. Ich probiere etwas Aufklärung zu leisten, mein Nachbar schüttelt den Kopf, es wäre gut gewesen. Alles was er auf Englisch sagt: „I am teacher“. Dies gibt anscheinend eine gewisse Absolution, was diese Themen angeht. Ich frage mich, ob er eigentlich mehr Englisch spricht, aber, wie andere schon anmerkten, aus Scham nicht will. Kurz darauf geht es weiter mit politischen Meinungen: Japan ist schlecht und die USA auch. Ich probiere, mich mit neutralen Handgesten herauszuhalten. Aber Deutschland sei gut, sie sind nett zu ihrem Land, na dann.
Am Tisch wird munter getrunken und immer wieder angestoßen. Genauso gerne werden Zigaretten verteilt. Der Raum ist zwar groß, aber trotzdem gut voll mit Rauch. Die aufgerauchten Kippen landen auf dem Boden. Immer noch ein befremdliches Verhalten, immerhin nicht in die nicht mehr zu essende Suppe und da keine Mülleimer in der Nähe sind, wird auch nicht gespuckt.
Ich bekomme zwischendurch noch das Handy mit dem Sohn in die Hand gedrückt. Ich solle das Hotel positiv bewerten, dann wären Aufenthalt und Essen kostenlos. Das Problem ist, dass ohne gebuchten Aufenthalt keine Bewertungen hinterlassen werden können. Ich sage trotzdem zu und kümmere mich später auf dem Zimmer darum. Davor werden aber noch Fotos gemacht. Es ist etwas befremdlich, dass dabei immer meine Hand gehalten werden muss, aber das scheint wohl so zu sein. Es ist ein netter Abend. Wie immer wird es nicht langweilig und es ist spät, als ich ins Bett komme. 

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